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Die lebende Göttin Kumari

von indienrundreisen.de
viele kleine Mädchen verkleiden sich als die lebende Göttin Kumari kathmandu
Während des Indra Jatra verwandelt sich der Durbar-Platz in eine Bühne lebendiger Tradition: Zahlreiche kleine Mädchen verkörpern Kumari, die lebende Göttin, und lassen uralte Mythen lebendig werden. © Hung Chung Chih

Die Kumari-Tradition ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie in Nepal verschiedene Glaubenswelten miteinander verschmolzen sind. Nur an ganz wenigen Orten der Welt gibt es eine lebende Göttin, die man tatsächlich sehen und erleben kann.

Wer den Durbar Square in Kathmandu besucht, sollte unbedingt einen Blick in den Kumari Bahal (Kumari Chowk) werfen. Hier erscheint die junge Göttin höchstpersönlich – eine Erfahrung, die man so schnell nicht vergisst. Für die Hindus ist Kumari die Reinkarnation der Göttin Parvati, der Gefährtin Shivas, in Gestalt eines Kindes. Seit über 200 Jahren lebt diese Tradition fort und zieht Pilger wie Reisende gleichermaßen in ihren Bann – ein Moment, in dem Mythos und Realität verschmelzen.

junge Mädchen, die sich während des Indra Jatra Festivals in Kathmandu als Kumari verkleidet haben

Junge Mädchen als Kumari verkleidet bringen während des Indra Jatra Festivals Farbe und Spiritualität in die Straßen Kathmandus. Nur wer die 32 Attribute der Vollkommenheit erfüllt, kann tatsächlich zur lebenden Göttin erwählt werden. © Hung Chung Chih


Kumari Devi Muttergöttin Terju Nepal

Kumari Devi, Verkörperung der Muttergöttin Taleju und Beschützerin Nepals, erscheint in prächtigem Kopfschmuck und mit kunstvoll geschminkten Augen. Vom Fenster ihres Palastes am Durbar-Platz aus segnet sie die Gläubigen während des Indra Jatra. © Ron Ramtang


Der Kumari-Kult reicht zwar bis ins Mittelalter zurück, seine heutige Form entstand jedoch erst 1775, als der letzte Malla-König Jaya Prakash den Kumari Chowk errichten ließ – ein Palast, der bis heute genutzt wird. Die Legenden erzählen von der leidenschaftlichen Verehrung des Königs für die Göttin Taleju, die seine Gefühle jedoch zurückwies. In seiner Verzweiflung suchte er Vergebung, und die Göttin offenbarte sich schließlich in Gestalt einer Jungfrau aus dem Volk der Newar. Seither gehört es zur Tradition, dass die Kumari während des Indra Jatra Festivals die Stirn des Herrschers mit einer Tika segnet – ein Symbol göttlicher Legitimation für das kommende Jahr.

So tief die Wurzeln dieser Praxis im Hinduismus auch liegen, ausgewählt wird die Kumari stets aus dem buddhistischen Shakya-Clan, der traditionell Silber- und Goldschmiede hervorbringt. Das Auswahlverfahren folgt alten Regeln – ähnlich dem, wie in Tibet ein Lama bestimmt wird. Zwischen drei und fünf Jahren stellen die geistlichen Ältesten den Mädchen Prüfungsfragen und bewerten ihr Wesen. Früher musste das Horoskop der Kumari exakt mit dem des Königs übereinstimmen – ein Kriterium, das nach der Abschaffung der Monarchie im Jahr 2008 gelockert wurde.

So lebt die Tradition bis heute fort – als einzigartiges Zusammenspiel von Mythos, Religion und Kultur, das Kathmandu zu einem spirituellen Zentrum macht.

Besucher bestaunen den wunderschönen Innenhof des Kumari-Palastes

Besucher treten ehrfürchtig in den Innenhof des Kumari-Palastes. Hier lebt die lebende Göttin, die als Inkarnation der Hindu-Göttin Durga gilt – ein Ort voller Mystik und Spiritualität. © salajean


Indra Jatra Fest Kumari wird in einem Streitwagen Kathmandu getragen und transportiert

Während des Indra Jatra wird Kumari in einem kunstvoll geschmückten Wagen durch die Straßen getragen, damit ihre Füße niemals den Boden berühren. Im gesamten Kathmandutal gibt es zwölf solcher lebenden Göttinnen. © Iryna Hromotska


Die Auswahl einer Kumari, der lebenden Göttin, folgt seit Jahrhunderten strengen Richtlinien. Schon ihre äußere Erscheinung muss besonderen Merkmalen entsprechen: dunkle, schwarze oder blaue Augen, rechtsdrehende Locken, Wimpern so fein wie die einer Kuh, eine Stimme wie der Gesang eines Spatzes und Beine wie die eines Rehs. Insgesamt gibt es 32 Kriterien der Vollkommenheit, die das Mädchen erfüllen soll. Heute ist dieses Verfahren weit weniger streng – meist geht es darum, bei einer ärztlichen Untersuchung die Gesundheit der Kinder sicherzustellen.

Doch allein Schönheit und Gesundheit genügen nicht. Die zukünftige Kumari muss auch Furchtlosigkeit beweisen. Im Taleju-Tempel wird sie in absolute Dunkelheit geführt und mit den abgetrennten Köpfen von Ziegen und Büffeln konfrontiert – Überreste uralter Opferzeremonien. Nur wer diesen Moment mit der Ruhe und dem Mut der Göttin Durga übersteht, gilt als würdig. Besteht das Mädchen die Prüfung, folgt ein geheimes Ritual, bei dem der Geist der Göttin Taleju in sie fahren soll – und aus einem Kind wird eine Göttin, die fortan von Gläubigen verehrt wird.

Kumari, die lebende Göttin Nepals

Die lebende Göttin Kumari gilt als strahlende Manifestation der weiblichen göttlichen Energie. Ihr Name bedeutet im Sanskrit „Prinzessin“ – ein Sinnbild für Reinheit und Kraft zugleich. © Yury Birukov


Mit der Wahl zur Kumari verabschiedet sich das junge Mädchen von seinem bisherigen Leben. Fortan wohnt sie im ehrwürdigen Kumari Bahal Tempel, wo sie in eine Welt voller Rituale und Symbole eintritt. Diener kümmern sich täglich um sie – sie baden sie, kleiden sie in prachtvolle Gewänder und schmücken ihr Gesicht mit schwarzem Kajal und einem geheimnisvollen dritten Auge im Chakra-Design. Ihr leuchtend rotes Gewand, reich verziert mit rituellen Schmuckstücken und erlesenen Accessoires, verwandelt sie endgültig in eine lebende Göttin, die von Gläubigen mit Ehrfurcht verehrt wird.
Speisen, darunter das traditionelle Samay Baji Kathmandu

Köstlichkeiten wie das traditionelle Samay Baji werden als Opfergaben dargebracht – nicht nur für Kumari, sondern auch für Ganesh, Seto Machindranath und Kalo Bhairav. Sie stehen für Gesundheit, Glück und ein langes Leben. © Iryna Hromotska


Sobald die lebende Göttin im Kumari-Bahal residiert, übernimmt sie eine zentrale Rolle im religiösen Leben Kathmandus. Jeden Tag erscheint der Taleju-Hohepriester, um sie zu verehren, und auch das Volk darf Zeuge ihrer Rituale werden. Besonders das Kumari Puja, das sie vor einem Publikum vollzieht, zieht Gläubige an: Es soll Glück, Wohlstand und Fruchtbarkeit bringen. Regierungsmitglieder, Familien und Frauen mit Kinderwunsch wenden sich gleichermaßen an sie. Sogar ihr Verhalten während des Pujas gilt als Omen für Nepals Zukunft – wirkt sie unruhig, deuten die Gläubigen dies als ein Zeichen bevorstehender Schwierigkeiten.

Zu ihren Pflichten gehört es auch, sich gelegentlich an einem Fenster des Palastes zu zeigen, damit die Menschen einen Blick auf die Göttin werfen und ihre Verehrung darbringen können. Höhepunkt ist jedoch das dreitägige Kumari Jatra Festival, wenn sie in einem prachtvollen Wagen durch die Straßen getragen wird. Ihre Füße dürfen niemals den Boden berühren, und so ziehen kräftige Männer den Wagen durch die Altstadt, während die Göttin vom Podest aus die Menschen segnet. Für viele Nepalesen ist dies die seltene Gelegenheit, die Kumari aus nächster Nähe zu sehen – ein Erlebnis, das tief im Glauben und im Herzen des Volkes verankert ist.

Nepali feiern das Kumari Jatra Festival Kumari Nepal

Die Straßen rund um den Durbar-Platz verwandeln sich, wenn Einheimische beim Kumari Jatra Festival den Wagen der Göttin ziehen. Dieses farbenfrohe Ritual zählt zu den wichtigsten religiösen Festen Nepals und reicht zurück bis ins 18. Jahrhundert. © Iryna Hromotska


So bedeutend die offiziellen Pflichten der Kumari in Kathmandu auch sind, bleibt ihr dennoch Raum für ein Stück Normalität. Tempelköche versorgen sie mit Mahlzeiten, Lehrer unterrichten sie innerhalb der Palastmauern, und mit den Kindern ihrer Bediensteten darf sie spielen – ein kurzer Ausgleich zum Leben in Verehrung und Ritualen.

Die Ernennung zur lebenden Göttin gilt als höchste Ehre, doch sie währt nur wenige Jahre. Sobald bei dem Mädchen die erste Menstruation einsetzt oder sie durch eine Wunde blutet, gilt die Präsenz der Göttin Taleju als erloschen. In diesem Moment legt sie ihre Rolle nieder und eine neue Kumari wird erwählt. So bleibt die Tradition in ständigem Wandel – und jedes Mädchen, das zur Kumari wird, trägt für kurze Zeit ein Erbe, das größer ist als sie selbst.

Ein junges Mädchen, das als die Gottheit Kumari Nepal verkleidet ist

Ein junges Mädchen schlüpft während des Indra Jatra in die Rolle der Göttin Kumari – einer Inkarnation der mächtigen Durga, die einst den Dämonenbüffel besiegte. © udeyismail


Nicht immer verläuft der Wechsel einer Kumari reibungslos. Ein berühmter Fall ereignete sich mit einer Kumari, die 1950 eingesetzt wurde – und ihren Platz erst in den 1990er-Jahren verließ. Jahrzehntelang bestand sie darauf, niemals zu menstruieren und auch nie geblutet zu haben. Doch als sie bereits Mitte vierzig war und längst nicht mehr in die traditionellen Wagen oder auf die schmalen Sitze passte, begannen die Priester zu zweifeln.

Eine Untersuchung brachte schließlich einen alten, winzigen Kratzer zum Vorschein – genug, um ihre Göttlichkeit infrage zu stellen. Gegen ihren Willen und unter lautem Protest ihrer Anhänger wurde sie durch ein neues Kumari-Kind ersetzt. Viele Gläubige aber blieben überzeugt, dass nur sie die wahre Verkörperung der Göttin Taleju sei. Bis heute pilgern manche nicht in den offiziellen Kumari-Bahal, sondern zu ihrem Haus in Haka Bahal, um ihr Respekt zu erweisen – ein lebendiger Beweis dafür, wie stark Glaube und Tradition miteinander verwoben sind.

Kumari Jatra und Indra Jatra Festival Kathmandu

Indra Jatra und Kumari Jatra – das Doppel-Fest ist das größte Straßenfest Nepals. Gläubige und Besucher gleichermaßen tauchen in die mystische Atmosphäre ein, die ganz Kathmandu in ihren Bann zieht. © Iryna Hromotska


Wenn eine Kumari ihre Rolle niederlegt, kehrt sie ehrenvoll in die Gesellschaft zurück – doch der Übergang ist nicht immer leicht. Zwar entspricht ihr Bildungsstand dem ihrer Altersgenossinnen, doch soziale Herausforderungen bleiben nicht aus. Um ihre Zukunft zu sichern, erhalten die Mädchen vom Tempel eine Mitgift für ihre spätere Heirat. Allerdings hält sich hartnäckig die Legende, dass es Unglück oder gar einen frühen Tod bringt, eine ehemalige Göttin zu heiraten. Zum Glück erwies sich dieser Glaube als Aberglaube – kein Ehemann einer früheren Kumari musste je ein solches Schicksal erleiden.

Der Kumari-Kult beschränkt sich übrigens nicht nur auf Kathmandu: Auch in Bhaktapur und Patan werden lebende Göttinnen verehrt, wenngleich die Kumari von Kathmandu die bekannteste und bedeutendste ist.

Wer tiefer in diese faszinierende Tradition eintauchen möchte, dem sei das Buch From Goddess to Mortal von Rashmila Shakya und Scott Berry empfohlen. Rashmila selbst war von 1984 bis 1991 Kumari und erzählt darin aus erster Hand vom außergewöhnlichen Leben zwischen Verehrung, Ritualen und dem Weg zurück in die Normalität.

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